Publikum zu Notaufnahme/Hospitali

Wenn das zunächst sehr didaktisch klingt, ist das Wunderbare an diesem umfassend gelingenden Abend, dass er sich nicht in Botschaften mitteilt, die einfach ausgesprochen werden, sondern dem Zuschauer Erfahrungen ermöglicht, also im besten Sinne theatral funktioniert. Wenn die Dramaturgie sich zum Beispiel (des filmischen Mittels) der Rückblende bedient, und man Nkwabi Nghangasamala als zuvor “geschichtslosen”, blanken, absolut fremden Patienten, der gerade in der Notaufnahme aufgeschlagen ist, in den vorhergehenden Tagen seiner zunehmenden Verzeiflung in seiner Berliner Wohnung sieht, isoliert, mit Stimmen und Gesichten in unterschiedlichen Sprachen kämpfend und man durch diese im klinischen Alltag nicht zur Verfügung stehende Rückschau, schlagartig die krasse Getrenntheit, die Kluft zwischen zwei Menschen, die Parallellwelten bewußt werden, die es jetzt zu überbrücken gälte, um überhaupt etwas zu verstehen. Wenn die Ärztin den Patienten mit diagnostischen Fragen in einem Tempo bombardiert, das selbst einen Muttersprachler, einen Menschen aus demselben Kulturkreis, der etwas Kompliziertes empfindet, verstummen liesse.  Wenn der Hauptdarsteller, der vorher mit Mühe der Ärztin auf Deutsch versuchte, ihre Fragen zu beantworten bzw überhaut den Kontakt zu ihr zu halten, in einer anderen Szene plötzlich seine ihm vertraute Sprache Suaheli spricht und dadurch als Person ganz anders sichtbar und spürbar wird, obwohl man nichts versteht. Wie Lisa Maria Janke als Ärztin dann doch anfängt, lernbegierig, sich Mühe zu geben, bei aller Fremdheit die durch das Setting des Krankenhauses, die Sprachbarrieren, die Unkenntnis der Lebenswelt des Gegenübers verstärkt wird, dem Gegenüber so gut sie kann gerecht zu werden. Wenn Bornice Biomndo, real Forscherin an der Charité, in einer Szene eines internationalen Gesundheits-Kongresses die deutsche Ärztin mit deren -trotz allem Bemühen um Ausgewogenheit- einseitigen Sichtweise konfrontiert.

Der Abend wird getragen von dieser gegenseitigen sichtbaren und nachvollziehbaren Mühe des sich Annäherns, des Respekts, trotz aller Ungeduld, Unkenntnisse, Fremdheiten und Risiken des Missverständnisses.

Und noch eine Kontinuität besticht bei Club Tipping Point. Wieder finde ich faszinierend wie das Bühnengeschehen absolut transparent hergestellt wird und trotzdem überzeugend theatral-atmosphärisch fuktioniert. Diesmal werden Geräusche von einem Teil der Performer live erzeugt und geloopt und dienen als “Szenenbild” für die daneben stattfindenden Szenen. Überhaupt: ein tolles Bühnenbild! Ein ganz und gar mit expressiv bemalten Kartons ausstaffiertes “Atelier”, eine “Wildnis” und zugleich sachlichste Atmosphäre einer Krankenhausambulanz, dazwischen akurat gehängt: technoid-futuristisch-anmutende Screens, durch die das Geschehen jederzeit um eine Dimension erweitert werden kann: durch gezeichnete Kommentare, Fotos, Filmclips, zeitlich verschobene Live-Kamera-Bilder der Handlung. Eine komplexe Bühne für komplexe Erfahrungen.

Eine Bedeutung der Behandlung der traditionellen tansanianischen Heiler, scheint darin zu liegen, so erfährt man -mehrfach gebrochen- an diesem Abend, dass der Erkrankte durch rituelle und magische Handlungen in sein soziales System zurücküberführt werden sollen, er wieder eingebettet wird in Traditionen, Familie, Nachbarschaften. Ein zunehmend brüchiges, auch ambivalentes, aber –wie viel mehr für westliche Länder- anregendes, weitreichendes Konzept.

In diesem Sinne wünscht man sich den Abend manchmal noch inhaltlicher, informativer, gerne würde man mehr erfahren über den Zusammenhang von traditioneller Heilung und Ernährung, der Funktion des Heilers, dem Versuch in Tansania klinisch traditionelle und europäisch/amerikanische Behandlungsmethoden zu verbinden.

Auch fällt manches Detail akustisch dem realen Babellogue dieses Abends, den Umgang mit der Notwendigkeit des Übersetzens zum Opfer. Aber vielleicht ist das, was man wissen will, so einfach auch einfach nicht zu haben.

H. P. 22.9.18

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Notaufnahme/ Hospitali bietet einen radikalen Perspektivwechsel oder vielmehr, was den Theaterabend noch reizvoller macht, einen Perspektivenvergleich über die kulturell völlig verschiedenen Behandlungsansätze psychischer Krankheiten. Dabei enthält sich das Regieteam erfreulicherweise jeglicher Wertung und Beurteilung. Der Zuschauer begleitet lediglich eine Annäherung, die Annäherung eines deutsch-tansanischen Ensembles und die Annäherung der jeweiligen Figuren und Kulturen auf der Bühne.
Interessant so hautnah zu erleben, dass wir mit unserer hochqualifizierten, westlichen Draufsicht, auch auf dem Gebiet der Psychiatrie, nicht der Nabel der Welt und das Maß aller Dinge sind.

C.T. 23.9.2018

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Presse zu Notaufnahme/Hospitali

Interview Corinna di Bodisco mit Regisseur Christoph M. Gosepath in -> Tagesspiegel Leute Kreuzberg vom 20.9.2018

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Esther Slevogt betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen -> taz vom 13.9.2018

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Richard Pettifer schließt in seinem ->Blogbeitrag auf Theaterstück vom 21.9.2018:

„As you might expect from a piece developed by experrts on the subject, Notaufnahme – Hospitali doesn’t trade in cliche of mental illness that might be found in other texts. Instead, Club Tipping Point deliver an informed criticism of imbalances in medical treatment for mental illness, including processes of interrogation („Keine Aussage ist auch eine Aussage“), imbalances as a hangover from colonisation of Africa, and the objectives of health companies operating there.

The size of the ideas means that Notaufnahme – Hospitali will never be error-free, but it’s worth seeing just for the scale of ambition, and there is no doubt plenty of work to come in the same field of research. Testimony to the realisation of the project’s educational function is the Q&A, where Gosepath steps onto the stage to answer questions from the audience. Apparently, we wanted to know what is the difference between someone who is mentally ill and someone who is not (apparently it’s never clear, but for example, not being able to distinguish the self from the environment) and something about the feeling of having one’s thoughts stolen from them. Such interesting insights are a hallmark of the material of the show, benefiting from a type of interdisciplinary learning between theatre and science.“[su_divider]

ctp 4.2 Notaufnahme/Hospitali

Ein deutsch-tansanisches Theaterprojekt über psychische Erkrankung und Gesellschaft im Rahmen von ctp 4.0 tryin’ africa – as an unfinished play 

Von Christoph M. Gosepath und Robert Schmidt | Performance: Nkwabi Nghangasamala, Lisa Marie Janke, Bornice Biomndo | Special Guest: Almut Zilcher | Text: Robert Schmidt und Christoph M. Gosepath | Dramaturgie: Martina Neu | Graphic Design: Jeroen de Boer – TheOlifant | Ausstattung: Primavera/Maas | Sound: Matthias Meppelink | Technik: Sebastian König | Produktion: Clara Becker | Assistenz: Emanuele Vassallo

Premiere: 19. September 2018 um 20 Uhr

Weitere Vorstellungen: 21., 22. und 24. September 2018 jeweils um 20 Uhr
Preise: 11,- Euro | 7,- Euro | 3,- Euro
Tickets unter karten@viertewelt.de
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VIERTE WELT | Kottbusser Tor
Im Zentrum Kreuzberg | Galerie 1. OG | Zugang über Außentreppe Adalbertstraße 96 | 10999 Berlin | mit@viertewelt.de | www.viertewelt.de
Wir bitten Rollstuhlfahrer, ihren Besuch einen Tag vor der Veranstaltung mit einer Email anzumelden: karten@viertewelt.de
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Eine Produktion von club tipping point, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds

              

Lisa M. Janke, Bornice Biomndo; Foto: club tipping point

Ab wann ist ein Mensch psychisch krank? Ab wann wird man (gegen seinen Willen) zum Patienten? Und was sagen Diagnose und Behandlungsweise über eine Gesellschaft aus?

Auf der Grundlage einer Recherche-Reise nach Tansania entwickelte die Berliner Gruppe club tipping point für ihr Theaterstück „Notaufnahme/Hospitali“ gemeinsam mit dem tansanischen Schauspieler Nkwabi Ng‘hangasamala, der Schauspielerin Lisa Marie Janke und der kenianischen Expertin für public health, Bornice Biomndo, ein Theaterstück, das fiktive Elemente mit theoretischem Wissen über psychiatrische Arbeit in den heutigen Gesellschaften hier wie dort verknüpft.

Die theatrale Auseinandersetzung mit interkulturell unterschiedlichen Sichtweisen auf Psychosen beginnt im Transitraum einer Notaufnahme, in der eine Ärztin einem afrikanischen Patienten begegnet. Sie hat Schwierigkeiten, ihn zu behandeln – nicht nur, weil er sie an eine Episode ihres eigenen Lebens erinnert, als sie selbst in Ostafrika mit psychischen Erkrankungen und traditionellen Formen der Heilung in Kontakt gekommen war …

Das Stück spielt auf Deutsch, Suaheli und Englisch.

-> Pressestimmen
-> Zuschauerstimmen

Momentaufnahmen:

CTP 4.2 Notaufnahme – Hospitali from ctp on Vimeo.

-> mehr zu ctp 4.0

ctp 4.1 imnotok-areyouok

szenische Lesung | Do 14. Dezember 2017 | 20.00 – 21.30h |
im Rahmen von ctp 4.0 tryin’ africa – as an unfinished play

von/mit Robert Schmidt und Christoph M. Gosepath
Video/Sounds: Silvia Witte
special appearance: Ibrahim Kingteh
Lesung mit anschließender Diskussion


Foto: R. Schmidt/C. M. Gosepath

Kasse/Bar ab 19:30 | 5/3,50 Euro
Reservierungen: karten@viertewelt.de oder Tel. 01578-8440941
VIERTE WELT | Kottbusser Tor Im Zentrum Kreuzberg | Galerie 1. OG, Zugang über Außentreppe Adalbertstraße 96 | 10999 Berlin | www.viertewelt.de
Wir bitten Rollstuhlfahrer ihren Besuch einen Tag vor der Veranstaltung mit einer Email anzumelden: karten@viertewelt.de


ctp 4.1 imnotok – areyouok ist der Auftakt zum Projekt ctp 4.0 tryin‘ africa as an unfinished play – eine theatrale Beschäftigung mit der Frage nach den Ursachen und den Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten im interkulturellen Vergleich zwischen Afrika und Europa.
->siehe auch unseren Blog zu ctp 4.0 und Momentaufnahmen der letzten Lesung weiter unten

Notaufnahme einer Berliner Klinik, Nacht.

Ein Mann liegt auf dem Boden. Er ist wach. Neben ihm: eine Tüte mit grauem Mehlstaub. Wartende geben an, der Mann habe einen Löffel von dem Mehl gegessen. Eine Frau habe ihn begleitet, sie sei jedoch verschwunden. Der Arzt spricht den Mann an, er antwortet nicht.

Ein Mann und ein Mann sitzen sich gegenüber. Sie stellen sich Fragen. Über ein fremdes Land – über fremde Standards, gemeinsame Herkunft und Geschichte und über Menschen, die sagen: I‘m Not Ok!

Fotos, Videos und Audioaufnahmen werden gesichtet und ausgewertet. Ein Materialberg wird abgetragen und in seine Einzelteile zerlegt. Es wird neu dokumentiert und beschrieben, überschrieben und übersetzt. Eine Reise, die nach Tansania führt, ins frühere Deutsch Ostafrika – in die Olduvai-Schlucht zur Wiege der Menschheit, nach Bagamoyo in die ehemalige deutsche Hauptstadt, nach Lutindi in ein psychiatrisches Krankenhaus, in dem grüne Pullover der deutschen Polizei getragen werden. Orte wechseln wie Zeiten – das Heute, das Damals, deutsche Kolonialgeschichte – deutsche Ärzte, deutsche Missionare, deutsche Kaufleute und Soldaten. Eine Geschichte der Ausbeutung. Der Körper als Missionsgebiet. Und auch die Seele?

Vor dem Hintergrund persönlicher psychiatrischer Lehrtätigkeit in Tansania und der theatralischen Beschäftigung mit dem Diskurs des Postkolonialismus unternahmen Schmidt und Gosepath im letzten Jahr eine Reise nach Tansania, um den dortigen traditionellen Umgang mit seelischen Erkrankungen jenseits westlicher Diagnose- und Therapieschemata kennenzulernen. Die Erkenntnisse zeigen: die Frontlinie hat sich geändert – die Menschen in Europa und Afrika haben gemeinsame Probleme…


Szenische Lesung am 28.6.2017 in Vierte Welt, Berlin von/mit Robert Schmidt, Christoph M. Gosepath und Silvia Witte (Video/Sounds).
Special appearance: Ibrahim Kingteh.

Momentaufnahmen:

CTP 4.1 „Imnotokareyouok“ from ctp on Vimeo.

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„Homer aus der Karibik“ gestorben

Derek Walcott, Poet und Nobelpreisträger aus dem Karibikstaat St. Lucia, starb im März im Alter von 87 Jahren.

Ein großartiger Dichter – sein Werk weist darauf hin, dass jede Herkunft immer schon eine komplizierte Geschichte hat …  Derek Walcott hat als Dichter und Mensch das Karibik-Projekt von ctp beeinflusst und unterstützt. Danke.

-> taz-Artikel „Homer aus der Karibik“
-> „Sea Grapes“ von Derek Walpott

Quelle: Bert Nienhuis; Lizenz: GNU FDL