Stimme einer Zuschauerin

Man sieht ein Schauspieler-/Figurenspieler-Paar, das vor aller Augen offen in einer raffiniert eingerichteten feinen Modellwelt/einem Filmset ein Figuren-Paar spielt, das in seiner bürgerlich-kontrollierten Eigenheim-Welt vor Langeweile eingeht und deshalb nur allzu gern das Angebot einer Reise in die Karibik, ins Paradies, annimmt, um dort – erwartungsgemäß – von der Realität eingeholt zu werden. #paradies#karibik ist ein kleines Wunderwerk der Imagination, wobei es doppelten Genuss macht, ganz offen dabei zusehen zu können, wie es hergestellt wird.

Über diverse Kameras wird das Spiel im Haus, auf dem „Traumschiff“, im Hafen und im Ferienressort gefilmt und auf einer größeren Leinwand hinter dem „Filmset“ präsentiert. Die sehr einfach gehaltenenen Figuren werden als Schauspieler auf die Leinwand projiziert, zum Teil werden Kinofilmsequenzen dazwischen geschnitten, zum Teil werden sie mit Kino-Szenen überblendet, so dass gefilmte Figurenebene und Filmebene sich vermischen: verschiedene eher banale, nüchterne, bemühte Situationen (im Tanzsaal des Kreuzfahrtschiffs z.B.) werden so aufgeladen mit bekannten emotionalen Bildern (Titanic etc) , die den Situationen für die Figuren überhaupt erst ihre Unterfütterung geben, durch sie überhaupt erst ihren Wert haben. Der ganze Abend besticht durch ein sehr atmosphärisches, eigenes „Hybrid“ aus unterschiedlichen Ebenen von Materialität, Realität, Zeichenhaftigkeit und Fiktion.

Dies wird durch ein sehr feines Soundsystem unterstützt, Sounds simulieren auf unterschiedliche Weise sehr konkrete Innenräume, konkrete Situationen, oder funktionieren als akustische Zitate (der Wehmut),  aus dem Nichts erklingende große emotionale Leinwandmusik usw. Wie hier mit unterschiedlichen Lichtquellen, Kameraeinstellungen (frontal von außen, durch Kameras die im Haus-Modell befestigt sind (wie Überwachungskameras) und einmal sogar einer kleinen Kamera, die aus der Perspektive der Figur zu filmen scheint und den sehr, sehr feinen Sounds gespielt wird, habe ich selten so gesehen.

Dieses Perspektivspiel wiederholt sich auf der konkreten Making-Of-Ebene. Das Schauspieler- /Figurenspieler-Paar ist oft konzentriert im Spielen der Figuren, springt manchmal für die Figuren ein, wenn es darum geht in Großaufnahme die Mimik einer der Figuren darzustellen, sitzt manchmal ruhig und abwartend da, während die Figuren vielleicht zu schöner Opern-Musik aus dem Fenster in den tropischen Dschungel schauen, geben sich Zeichen, lächeln sich mal an, verfehlen sich manchmal, sind manchmal wie Kommentar zu den Figuren, manchmal zu dem was sie da gerade gemeinsam tun, manchmal wie privat.

Und das ist für mich eigentlich das schönste des Abends, diesem sehr charismatischen Paar (Nicole de Cruppé, Sebastian Becker) dabei zuzuschauen, wie sie ihre Beziehung gestalten, in dem sie dieses Spiel über das Paar spielen, dass in die Karibik fährt, um … Ihnen dabei zuzuschauen, wie sie dort auf der Bühne ruhig kooperieren, den Überblick behalten, umbauen, gemeinsam Bilder entwerfen, sich in Details verlieren, immer wieder unterschiedliche Funktionen übernehmen ohne Festlegung auf diese Funktionen … da kommen für mich die verschiedenen Ebenen des Abends ganz gegenwärtig zusammen zu einem sehr zeitgenössischem Statement  über Fantasie, Liebe und Realität.

Und:  von Anfang an gibt es noch eine dritte Person, zunächst ganz parallel und jenseits der Filmsetting-Bühne / des Reichs der Imagination. Der haitianische Schauspieler Patrick Joseph, der von Außen (aus dem Zuschauerraum heraus) her seine Skepsis gegen die Karibikträume der Figuren vorbringt und sich aber -im Singen eines scheinbar traditionellen Liedes, eines Tanzes in absurder Generalsuniform, indem er moderne haitianische Lyrik vorträgt (die nicht grade durch „paradiesische Einfachheit“ besticht), in dem er über seine Rolle als schwarzer Schauspieler in Deutschland reflektiert und die Blackfacing-Debatte der letzten Zeit-  auch einem Spiel der Projektionen anbietet, in dem er gleichzeitig wie eine skeptische, autonome Position gegen diese Projektionen behauptet.

Am Ende sprengt er das Spiel der Paradies-Imagination des Figurenpaares, in dem er, während die Kameraeinstellung den Blick des Paares in den tropisch-grünen Urwald mitmacht und während sich die beiden noch fragen, was für ein Tier denn dieses laute Knacken da verursacht, sein Gesicht lebensgroß durch die grünen Pflanzen schiebt und auf die kleinen Figuren zurückguckt und darauf die beiden Spieler auffordert das Spiel zu beenden, sie hätten schön gespielt bis jetzt, aber er wolle ihnen etwas erzählen. Alle 3 nehmen ihre Jacken und verlassen Richtung Kneipe das Theater, Alltägliches austauschend, aber im Rausgehen hört man wie Joseph zu einer offenbar längeren Erzählung ansetzt:  „Also, meine Mutter war eine sehr stolze Frau, die …“ Auch hier eine wunderbare Bewegung zum Beginn von realer Begegnung, konkretem Kontakt, persönlichem Austausch und einem Ende der schlichten Projektionen.

Heike Pelchen (11.4.2013)

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